Übersetzungsagenturen mit höchstem Professionalitätsanspruch, die „Big Player“ der Branche, verweisen oft auf ihren Websiten auf ISO-Zertifizierungen und ein firmeneigenes Qualitätsmanagement, zu dem üblicherweise das so genannte Vier-Augen-Prinzip gehört. Die Formel «Wir arbeiten ausschließlich mit Muttersprachlern zusammen» werden sie auf Internetseiten renommierter Agenturen nicht finden, während sie die Internetpräsenz unzähliger semiprofessioneller „Sprachendienste“ (für welche der Ausdruck „CAT-Tool" ein Fremdwort ist) geradezu dominiert. Offensichtlich ist man mit dem Hinweis auf das Wörtchen „Muttersprache" bestrebt, das ansonsten mangelhafte Angebot attraktiv erscheinen zu lassen.
Was hat die Formulierung, dass man nur mit Muttersprachlern arbeite, zu bedeuten und warum wird dies tendenziell als ein Qualitätsmerkmal wahrgenommen? Grundsätzlich ist damit das so genannte Muttersprachenprinzip gemeint, demzufolge der beauftragte Übersetzer die Texte stets nur in seine Muttersprache übersetzt. Dieses Verfahren, obwohl in der Branche üblich, ist alles andere als selbstverständlich. Es stellt sich zunächst die Frage, wer als Muttersprachler gelten soll. Die deutsche Sprache legt nahe, dass es die Sprache der Mutter ist (deshalb der Witz mit zwei Müttern, wenn jemand behauptet, er „habe“ zwei Muttersprachen). Das Englische trifft die Sache eher auf den Punkt: Man spricht zwar von mother tongue, doch es gibt auch den Ausdruck native speaker.
Viele Menschen beherrschen von Kindesbeinen an zwei und mehr Sprachen. Noch andere ziehen in früher Jugend oder als junge Erwachsene in ein anderes Land und sprechen die Landessprache dort als Zweitsprache akzentfrei. Es ist in einer globalisierten Welt nicht selten, dass Menschen in einem Land, in dem sie nicht geboren sind, Jahre und Jahrzehnte leben, weshalb ihr Ursprungsland zum eigentlich fremden Land wird. Sind sie keine Native Speakers ihrer neuen Heimat?
Man kann außerdem zu Recht fragen, inwiefern die so genannte muttersprachliche Kompetenz darüber entscheidend sein soll, ob jemand Inhalte adäquat in eine andere Sprache übertragen kann. Sind Fachwissen, geübter Gebrauch von Hilfsmitteln wie Terminologien und Glossare, die Beherrschung der Übersetzungstechnik und der Translation-Memory-Tools nicht wichtiger? Und: Sagt das bloße Merkmal „Muttersprache“ irgendetwas über den Bildungsstand, den Wortschatz oder den Schreibstil eines Übersetzers aus?
Die Bedeutung des Muttersprachenprinzips wird systematisch überschätzt, wobei es meiner Erfahrung nach zwei Voraussetzungen für eine gute Übersetzung gibt. Zum einen muss sie den Ausgangstext unter Berücksichtigung des Inhalts, Stils, der Intention des Autors und der Rezipientengruppe einwandfrei wiedergeben. Zu diesem Zweck aber ist ein sicheres Verständnis des Ausgangstextes absolut unerlässlich, was ein gutes Argument gegen das Muttersprachenprinzip darstellt. Zum anderen sollte sich eine Übersetzung in der Regel so lesen, als wäre sie gar keine Übersetzung. Mit anderen Worten: Eine Übersetzung ist dann gut, wenn sie den Anschein eines Originaltextes hat.
Damit diese beiden Voraussetzungen vorbehaltlos erfüllt sind, bedarf es sehr guter Sprachkenntnisse in beiden Sprachen. Ein falsch verstandener Ausgangstext wird in jedem Fall in einer unpräzisen Übersetzung resultieren. Fehlen fundierte Kenntnisse der Zielsprache, sind fehlerhafte Formulierungen in der Übersetzung zu erwarten. Nur sehr gute (besser: perfekte) Kenntnisse der beiden Sprachen machen Übersetzungsarbeit von einwandfreier Qualität möglich, wobei irrelevant ist, welche dieser Sprachen im Kindesalter gesprochen wurden. Die Erfüllung dieses Anspruchs wird in Deutschland durch Staatliche Prüfungen grundsätzlich nachgewiesen. Denn anders als der freie Markt es vorschreibt, wird bei einer solchen Prüfung – zu Recht – auch in die gewählte Fremdsprache übersetzt!